Malerei Zeichnung Band 1

 

   

 

Rolf Kuhrt

Malerei Zeichnung

Band 1

     

Vertrieb:

Passage-Verlag, 
Dessauer Straße 9, 
04129 Leipzig

Kontakt:

fon 0341 - 9 08 54 26
fax 0341 - 9 08 54 44 
passageverlag@ t-online.de
 

ISBN 978-3-938543-76-4

334 Seiten,
im Festeinband
Preis 68,00 Euro
(beide Bände im Schuber) 

 

 

Dieter Gleisberg: Im Spiegel des Mythos. 

Zu einem Zentralaspekt im Schaffen von Rolf Kuhrt

Am Wintermorgen des 27. Dezember 1950 starb auf einer Straße in New York der Maler Max Beckmann unerwartet an einem Gehirnschlag. Vor den Nationalsozialisten zunächst nach Holland geflohen, hatte er erst drei Jahre zuvor in den USA die ersehnte Wahlheimat gefunden, von der Wochenschrift »Time« begrüßt als »Germany's gre-atest living artist«. Doch nur wenigen dürfte bewusst gewesen sein, dass seine Wiege in Leipzig stand, der sächsischen Messe-, Buch- und Musikstadt. Hier wirkten einst geniale Komponisten wie Johann Sebastian Bach oder Felix Mendelssohn Bartholdy. Und wiederholt schrieb Leipzig Weltgeschichte - von der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht von 1813 bis zu den mutigen Demonstrationen der Volksmassen . gegen ein verkrustetes Regime, die im Herbst 1989 den Weg zur deutschen Einheit bahnten. Im Lichte dieser kulturellen Metropole reifte auch das Werk des Malers, Grafikers und Bildhauers Rolf Kuhrt. Zwanzigjährig kam er zum Studium in die Stadt, um sich von ihr erst als Emeritus nach einem halben Jahrhundert wieder zu verabschieden. Heute wohnt er im alten Küsterhaus neben einer mecklenburgischen Dorfkirche, unweit des Heidberges von Güstrow, wo der Bildhauer Ernst Barlach sein Atelier errichtet hatte.

Max Beckmann behielt zu seinem früh verlassenen Geburtsort kaum Kontakt. Als er jäh aus fruchtbarem Schaffen gerissen wurde, ahnte daher niemand, dass seine Kunst gerade hier einmal lebhaften Widerhall finden sollte. Zumal seine Vaterstadt in jenem Teil von Deutschland lag, wo eine verblendete Ideologie den Meistern der Moderne langehin mit doktrinärem Mißtrauen begegnete. Erst 1984, zu seinem 100. Geburtstag, bekannte sie sich offiziell zu ihrem großen Sohn. Da aber war er ihren Künstlern längst, laut Zeugnis des Malers Dietrich Burger, »so etwas wie >die höhere Instanz<«.

Allen voran trat Rolf Kuhrts Lehrer Bernhard Heisig streitbar für Max Beckmann ein. »In einer Zeit«, erinnerte er sich, »wo es von den Leinwänden spritzte und tröpfelte, und das Arbeiten mit der menschlichen Figur als niedrigste Form der Kunstübung galt [...] war die Begegnung mit Beckmann eine hilfreiche Erleichterung. Hier war etwas herübergerettet von dem Alten, und der Mensch das ausdrucksfähigste, bezugsreichste Medium geblieben. Von da aus gab es noch die Verantwortung zur Form.«

In der bildenden Kunst besaß Leipzig bis an die Gegenwart heran keine mit München, Berlin oder Dresden vergleichbaren Traditionen. Nur Max Klinger hatte um 1900 die Augen der Kunstwelt für kurze Zeit auf seine Heimatstadt gelenkt. Die lokale Kunstakademie wurde bei ihrer Gründung unter Goethes Zeichenlehrer Adam Friedrich Oeser auf den Dienst am Buch verpflichtet, was bis heute im Namen »Hochschule für Grafik und Buchkunst« nachhallt, obwohl inzwischen Malerei, Fotografie und Medienkunst aus ihrem Lehrprogramm nicht wegzudenken sind. Bei Leipzigs spätem Aufstieg unter die führenden deutschen Kunstzentren war diese Hochschule treibende Kraft. Ihr verdankte auch Rolf Kuhrt nachhaltige Impulse. Und sie ihm ihrerseits. Denn bald nach dem hier absolvierten Studium begann seine langjährige Lehrtätigkeit an dieser Akademie.

Unter ihren Wahlahnen stand Max Beckmann in vorderster Reihe. Seine Anregerschaft schloss neben der expressiven Formsprache auch ein, was sein Mäzen Stefan Lackner »das Hervorquellen der mythischen Menschheitsfabeln hinter den schreiend bunten Kulissen der Gegenwart« nannte. Mit dieser Tendenz zum Mythos blieb Beckmann aber nicht allein. So häuften sich in den dreißiger Jahren auch bei Picasso um die Gestalt des Minotaurus mythische Elemente. Nicht zuletzt rief der faschistische Mythenmissbrauch engagierte Gegenbilder im Namen der Humanitas hervor.

Sub specie temporis nostri

Im kulturellen Gedächtnis waren die Mythen jedoch nie verstummt. Denn die »Arbeit am Mythos«, so der Philosoph Hans Blumenberg, kennt weder einen Anfang noch ein Ende. Im Unterschied zu Bibel und Koran niemals kanonisiert, leben Mythen frei erzählbar weit über die Zeit ihres Entstehens fort. Auch im Mittelalter wurde vom Trojanischen Krieg gesungen und kamen neue Mythen auf um König Artus oder um den Hort der Nibelungen. Und noch heute verbergen sich mythische Relikte in zahllosen Benennungen - von den Wochentagen bis zum Kontinent Europa, vom Ödipuskomplex der Psychoanalyse bis zum Apollo-Programm der NASA. Ganz zu schweigen vom Übertragen der Mythos-Aura auf Personen wie Napoleon oder Marylin Monroe, ja sogar auf Automarken.

Unvermindert wohnt also dem Mythos aufwertende Symbolkraft inne. Der »Entzauberung der Welt«, nach Max Horkheimer undTheodorW Adorno das Programm der Aufklärung, war kein Rundumerfolg beschieden. Schon die Romantiker ersehnten einen »Neuen Mythos«. Und als die alten Götter in Jacques Offenbachs Operetten spritzige Travestien hinnehmen mussten, bewiesen sie zur gleichen Zeit in Richard Wagners Musikdramen ihre unverbrauchte Geistesmacht und Gleichnishoheit. Rückgriffe auf mythische Quellen sind seither Legion - von Friedrich Nietzsches »Zara-thustra« bis zum futuristischen Roman »Das Kassandramal« des Kirgisen Tschingis Aitmatov.

»Der Mythos hat unzerstörbare Kraft«, wusste der Schriftsteller Franz Fühmann, denn er ermögliche, individuelle Erfahrung an Modellen von Menschheitserfahrung zu messen. Im Unterschied zu Märchen, die immer mit dem Sieg des Guten enden, kenne der Mythos »kein Happy-End und kein Wunschdenken, und manche Mythen, etwa die des geschundenen Marsyas oder des rasenden Ajax, sind von einer solchen Härte, dass sie uns abweisend machen könnten, spürten wir nicht auch noch im Kras-sest- und Grässlichsten jene tapfere Wahrhaftigkeit, die uns die eigene Erfahrung bestätigt und am Beispiel ihres Gestaltetwerdens die Möglichkeit ihrer Bewältigung zeigt.« Diese Gestaltbarkeit der Mythen berief die Dichter und Bildner seit alters zu ihren besten Bewahrern und Interpreten. Schon für Homer galt, was James Joyce für seinen »Ulysses« in Anspruch nahm: »to transpose the myth sub specie temporis nostri«. Das Betrachten des Mythos mit den Augen der Gegenwart reicht bis zur Mythenkorrektur. Bei Franz Kafka schweigen die Sirenen, während sie für Bertolt Brecht nach der Erkenntnis, dass der gefesselte Odysseus sie weder erreichen, noch seine Ruderer mit Wachs im Ohr sie hören konnten, nur voll Zorn geschrieen haben.

Auch Albert Camus brach mit der Überlieferung, indem er Sisyphos das auferlegte Schicksal, den Stein wieder und wieder bergan zu stemmen, annehmen ließ: »Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.« Dagegen begehrt er bei dem Leipziger Maler Wolfgang Mattheuer wider die zwanghafte Immerwiederkehr seiner sinnlosen Fron auf: »Sisyphos behaut den Stein« und meißelt daraus eine Faust, Symbol des Widerstands.

Unter den Vätern der inzwischen weltweit beachteten »Leipziger Schule« erkannte Mattheuer, neben Heisig in jungen Jahren Lehrer von Rolf Kuhrt, als erster die Tragfähigkeit mythischer Gestalten für zeitkritische Reflexionen. Kuhrt gewann die gleiche Überzeugung wenig später auf dem Umweg intensiver Auseinandersetzung mit klassischen und zeitgenössischen Bühnenwerken im Rahmen enger Zusammenarbeit mit dem Deutschen Nationaltheater Weimar. Unter weitgehendem Verzicht auf Beiwerk konzentrierte sich seine Wiedergabe ganz auf die Akteure, um in ihrem Lieben und Leiden, Aufruhr und Untergang Grundmuster menschlicher Lebensdramen freizulegen.

So fiebert in der packenden Szene, in der Jago Othello seine Verleumdungen zuraunt, der ganze Furor verhängnisvoller Verwirrbarkeit. Düster und diabolisch, erfüllt vom Wissen, wie sehr hinterhältiger Verrat selbst tatkräftigen Menschen die Seele vergiften und sie ins Unheil stürzen kann, damals wie heute. Etwas von der archaischen Ur- und Bildgewalt antiker Tragödien wühlt in diesem wie von Fegefeuer durchloderten Holzschnitt aus dem Jahre 1974.

Nach derartigen Präludien verfiel Rolf Kuhrt fast zwangsläufig dem Sog der Mythen. Das lag erneut im Trend der Zeit, besonders in der DDR, die 1984 ihren Beitrag zur Biennale in Venedig unter das Motto »Die Aktualität der Mythen« stellte. Doch hielt seine Kunst daneben weiterhin an literarischen Gestalten fest, mit Vorliebe an solchen, die mythische Wurzeln haben wie dem Geisterspuk in Shakespeares »Sommernachtstraum« oder dem Hexensabbat der »Walpurgisnacht« in Goethes »Faust«, dessen Unerschöpflichkeit den Künstler immer aufs Neue zu Zeichenstift und Pinsel greifen ließ.

Bei seinen Adaptionen mythischer Figuren trug er nie die Brille eines Archäologen. Sein freier Umgang mit den Mythen liegt auch jenseits illustrativer Narration. Es ist ihm weniger um Sagen, denn um Aussagen zu tun. Strahlenden Olympiern wie Zeus oder Herkules, in deren Glanz sich gern barocke Herrscher sonnten, bot seine Kunst kein Forum. Auf Geistverwandte stieß Kuhrt dagegen in den Märtyrern göttlicher Ränke und Rivalitäten, in tragisch Gescheiterten und Opfern von Indolenz und Unvernunft. Ihre Schicksale sind ihm gleichsam selber zum Schicksal geworden.

Nur so erklärt sich ihre Allgegenwart in seinem Schaffen. Diese Heimgesuchten voller Ahnungen und Mahnungen lassen ihn nicht los: So wie sie selbst Gewalten ausgeliefert sind, halten sie ihn in ihrer Gewalt und wurden ihm zu Leit- und Leidfiguren. Zu Weggefährten und Dialogpartnern. Zu Zeugen und Trägem seiner eigenen Erlebnisse und Gedanken, seiner Ängste und Betroffenheit.

Deshalb lag es nahe, den Fokus gezielt auf sie zu richten, um den An- und Absichten dieses tiefsinnigen Gestalters nachzuspüren. Eines beharrlichen Moralisten, der von Jahrzehnt zu Jahrzehnt nachdenklicher geworden ist, kompromissloser, immer weniger bereit, sich beschwichtigen zu lassen oder über brennende Probleme seicht hinwegzutäuschen. Sein Denken ist grüblerisch, sein Auge kritisch, sein Herz aber durchweg auf der Seite der Benachteiligten und Schwachen. Die eigene Herkunft aus bescheidenen Verhältnissen hat er nie verdrängt. Bisweilen eigenbrötlerisch, fehlt ihm doch jeder selbstgewisse Ehrgeiz eines Weltverbesserers. Er suche in seinen Arbeiten immer nach einem Besseren als er selber sei, hat er uneitel klargestellt.

Sein Schaffen umgreift die gesamte Existenz von der Geburt bis zum Tod. Weder Landschaft noch Stilleben sind ausgespart. Doch Kernthema blieb immer der Mensch - der Mensch im Ringen und im Widerspruch mit sich und seiner Welt. Kuhrt setzt seine unheldischen Helden allen erdenklichen Leiden und Schikanen aus. Ihre Konflikte klaffen wie offene Wunden. Von Passionen verführt und verfolgt, tragen sie ihre Haut zu Markte. Sie werden gequält von Zweifel und Gebrechen. Kain wütet als Schlächter seines Bruders in aller Brutalität. Warnrufe finden kein Gehör. Man tanzt in blinder Frenesie auf brodelndem Vulkan. Selbst in der Hingabe der Liebespaare nistet häufig Schmerz. Nichts wird beschönigt, nichts heruntergespielt, nichts verschwiegen. »Und doch«, schrieb Thomas Mann, »ein Werk, und sei es eines der Verzweiflung, kann immer nur den Optimismus, den Glauben ans Leben zur letzten Substanz haben.«

Was Kuhrt zu sagen und zu fragen hat, geschieht schnörkellos und bohrend. Seine vehemente Bildsprache rüttelt auf, ohne Antworten vorwegzunehmen. Das Spröde, Sperrige, rebellisch Ungestüme dieser suggestiven Handschrift, die das Erbe des Expressionismus in sich trägt, bewahrt seine tiefernsten Bilder vor hohler Phrase und vor leerem Pathos. Schmeicheln und Heucheln ist seine Sache so wenig wie Ausweichen und Wegschauen. Kuhrt ist weder Schöngeist noch Asket. Sein Atelier war nie Refu-gium vor der Wirrsal und dem Wankelmut der Welt. Statt Heilsbotschaften werden Denkanstöße vermittelt, mitunter radikal bis an die Schmerzgrenze.

Verheißungsvollen Apotheosen wie dem Monumentalrelief für die Leipziger Universität, an dem er einst mitgewirkt hatte, verweigert er schon lange seine Hand. Denn unter dem Diktat einer selbstherrlichen Partei, die vorgab, immer recht zu haben, waren alle Utopien und hehren Ideale, die dieses Auftragswerk verherrlichen sollte, längst ausgehöhlt, ja, ohne Skrupel über Bord geworfen worden. Kuhrts wachsende Betroffenheit über die stete Zunahme von Zwang und Frust als Vorboten der Agonie spricht aus Werken wie dem Holzschnitt »Der Zweifler« überdeutlich. Trotz mannhaftem Aufrechtstehen kann der Dargestellte,  ein verhülltes Selbstbildnis, den Flutanstieg nicht hemmen: Das Wasser wird ihm sehr bald bis zum Halse reichen. Und eine rettende Arche scheint nirgendwo in Sicht. Wie finster spaltet sich der Schatten von diesem Schwarzseher ab als Zeichen quälender Zerrissenheit! Zwar trennt ihn das Krisengespür von jenen Arglosen, denen der Künstler in einem parallelen Blatt voller Sarkasmus zuruft: »Schlaft nur, schlaft - Ihr habt ja Schiller und Goethe!« Doch die unaufhaltsamen Wassermassen - welch biblisches Symbol! - kann der Zweifler so wenig überstehen wie diese für Gefahren blinden Ignoranten. Er wird ihr Schicksal teilen, das Kuhrt im Gemälde drastisch steigerte: Selbst als nur noch ihre Köpfe aus den Wellen ragen, wachen sie nicht auf!

Ein Durchbruch

Aus der Rückschau gleichen derartige Bilder hellsichtigen Orakeln. Das gilt nicht zuletzt für jenen einprägsamen Holzschnitt, in dem Kuhrt, Vorstufen mitgezählt, erstmals eine mythische Gestalt zum Sprachrohr seines rebellierenden Gewissens machte. Zeitkritische Persiflagen wie »Der Streit« oder »Mäntel im Wind« waren vorangegangen, die in der endlosen Wiederholung von geiferndem Gezänk und schnödem Opportunismus das Epidemische dieser Verhaltensweisen offenbaren.

Doch plötzlich verletzt ein Außenseiter die Spielregeln von Anpassung und Abtauchen in die Anonymität des Jedermann. Wie ein Berserker müht er sich durch eine Wand zu stürmen, gehetzt von Unversöhnlichkeit und Panik. Sein Wüten mit Faust, Ellbogen und Fußtritt lässt das Mauerwerk erzittern. Reißt eine Bresche, durch die er sich zu kämpfen sucht. Sie erinnert fast an einen Mutterschoß. Den möglichen Verdacht, es könne ein ausbrechender Häftling sein oder ein Täter auf der Flucht vor der Verantwortung, widerlegt von vornherein sein Name: Laokoon.

Unwillkürlich stellt sich jedoch die Frage, was dieser Aussteiger im durch den Vorprall schadhaften Habitus der Gegenwart mit dem trojanischen Priester zu schaffen habe, der vergebens vor dem hölzernen Pferd gewarnt hatte? Gegen seine Vorhersagen taub, zogen die Trojaner das Ungetüm mit den darin versteckten Feinden in ihre Stadt und weihten sich damit selber dem Verderben. Laokoon aber, so will es der Mythos, wurde samt seinen Söhnen auf Geheiß griechenfreundlicher Götter von Meeresschlangen umgebracht.

Anders sein Namensbruder bei Rolf Kuhrt. Entschlossen setzt er sich zur Wehr, wagt, statt nur zu weissagen, einen verwegenen Befreiungsschlag. Doch ob sein Aus-und Durchbruch wirklich glückt, ist ungewiß. Bliebe er stecken, hätten Häscher leichtes Spiel. Ganz im Sinne von Gotthold Ephraim Lessings berühmter Schrift »Laokoon oder: Über die Grenzen der Malerei und Poesie« ist jener »fruchtbare Augenblick« eingefangen, in dem sich eine Handlung zuspitzt. Aber es ist ein kritischer Moment - kritisch dank der Polemik des Künstlers, kritisch aber auch, weil der Ausgang des Geschehens völlig offen bleibt.

Die Mauern hingegen, die der Mann durchbricht, halten keinen Ausgang offen, weder Tür noch Fenster. Es ist ein trister Ort, kalt und seelenlos. Nüchterne Geometrie und Gleichmaß der Schraffuren deuten an: überall ringsum dasselbe Bild, dieselben nackten, monotonen Wände. Wie im Plattenbau scheint alles zugebunkert von Beton. Hier wächst kein Gras mehr, keine Blume. Hier könnte der Tod sein Lager aufgeschlagen haben.

Der Drang, dieser Betonwüste zu entfliehen, wäre für die Attacke des Laokoon schon Grund genug. Kuhrt kennzeichnete ihn im Interview denn auch als jemand, der gegen »die Lethargie des zu oft ungestalteten Betons« anrenne, gegen »die Unnötigkeit mancher Papiere und Verordnungen und die Oberflächlichkeit mancher Informationen.« Dass er auch das Krebsgeschwür einer allmächtigen, von Betonköpfen beherrschten Bürokratie im Visier hatte, beweisen Vorstufen des Holzschnittes. So geißelt eine Zeichenstudie 1976 ein Heer von Bürokraten, die einander wie Klone gleichen, starr und stur wie Automaten, Vertreter jener nach oben hörigen, nach unten herrischen Funktionärskaste, die im Volke Apparatschiks hießen. Ein einziger schert aus und rennt, einen zerknüllten Wisch mit Erfolgslügen in der Hand, verzweifelt gegen die Rückwand. Später versucht dieser Dissident, durch die mit Lobessprüchen übersäte »Wand guter Gründe« hindurchzuschlüpfen. Als Rückenakt, der sich anschickt, durch eine Lücke ins Freie zu entrinnen, heißt der Empörer dann in einer weiteren Version Laokoon.

Solange diese Entwürfe am Innenraum festhielten, haftete ihnen noch etwas von der surrealen Parodie in Marcel Aymes Erzählung »Der Mann, der durch die Wand geht« an. Erst als Rolf Kuhrt seinen Protagonisten, von außen gesehen, mit geballter Faust frontal auf den Betrachter zupreschen ließ, gewann seine Bildidee die Brisanz eines flammenden Appells. Nun zeigte sich, dass es bei weitem nicht nur darum ging, Betonmanie und Büroschranzen zu brandmarken. Wer hätte 1979, als das Blatt entstand, beim Anblick eines Mannes, der durch eine Außenmauer dringt, nicht spontan an jene Schandmauer gedacht, welche mit der innerdeutschen Grenze die Zweiteilung der Welt für lange Dauer zu besiegeln schien?

Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges errichtet, wurde »die Mauer« zum Inbegriff von Unfreiheit und Diktatur. Diente sie doch, entgegen aller Propaganda, hauptsächlich als Bollwerk nach innen, das die eigene Bevölkerung einsperrte, um den Ader-lass der DDR durch Massenflucht zu stoppen. Das Trauma dieses Abgeschottetseins spiegelte sich auch in den beklemmend engen Schachtelräumen wider, in die Künstler aus Kuhrts Umkreis wie Wolfgang Peuker, Volker Stelzmann oder Karl-Georg Hirsch vielfach ihre Bildfiguren bannten. Auch Kuhrts Vision vereckt die Wände wie zu einer Gefängniszelle. Seine zeichnerische Replik von 1982 verrät, was sich hinter den Mauern verbirgt: ein gigantisches Labyrinth verwinkelter Irrgänge und Sackgassen ohne jeden Ausweg.

Doch die Sehnsucht nach Recht und Freiheit ließ sich nie ersticken. Bis zu ihrem Fall im November 1989 gab es Hunderte oft mit dem Tod bezahlte Versuche, dieser Mauer zu entkommen. Auch Kuhrts Laokoon tritt (im wahrsten Sinn des Wortes) den Beweis an, dass scheinbar unüberwindliche Betonwände brüchig werden können.

und Gleichmaß der Schraffuren deuten an: überall ringsum dasselbe Bild, dieselben nackten, monotonen Wände. Wie im Plattenbau scheint alles zugebunkert von Beton. Hier wächst kein Gras mehr, keine Blume. Hier könnte der Tod sein Lager aufgeschlagen haben.

Der Drang, dieser Betonwüste zu entfliehen, wäre für die Attacke des Laokoon schon Grund genug. Kuhrt kennzeichnete ihn im Interview denn auch als jemand, der gegen »die Lethargie des zu oft ungestalteten Betons« anrenne, gegen »die Unnötigkeit mancher Papiere und Verordnungen und die Oberflächlichkeit mancher Informationen.« Dass er auch das Krebsgeschwür einer allmächtigen, von Betonköpfen beherrschten Bürokratie im Visier hatte, beweisen Vorstufen des Holzschnittes. So geißelt eine Zeichenstudie 1976 ein Heer von Bürokraten, die einander wie Klone gleichen, starr und stur wie Automaten, Vertreter jener nach oben hörigen, nach unten herrischen Funktionärskaste, die im Volke Apparatschiks hießen. Ein einziger schert aus und rennt, einen zerknüllten Wisch mit Erfolgslügen in der Hand, verzweifelt gegen die Rückwand. Später versucht dieser Dissident, durch die mit Lobessprüchen übersäte »Wand guter Gründe« hindurchzuschlüpfen. Als Rückenakt, der sich anschickt, durch eine Lücke ins Freie zu entrinnen, heißt der Empörer dann in einer weiteren Version Laokoon.

Solange diese Entwürfe am Innenraum festhielten, haftete ihnen noch etwas von der surrealen Parodie in Marcel Aymes Erzählung »Der Mann, der durch die Wand geht« an. Erst als Rolf Kuhrt seinen Protagonisten, von außen gesehen, mit geballter Faust frontal auf den Betrachter zupreschen ließ, gewann seine Bildidee die Brisanz eines flammenden Appells. Nun zeigte sich, dass es bei weitem nicht nur darum ging, Betonmanie und Büroschranzen zu brandmarken. Wer hätte 1979, als das Blatt entstand, beim Anblick eines Mannes, der durch eine Außenmauer dringt, nicht spontan an jene Schandmauer gedacht, welche mit der innerdeutschen Grenze die Zweiteilung der Welt für lange Dauer zu besiegeln schien?

Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges errichtet, wurde »die Mauer« zum Inbegriff von Unfreiheit und Diktatur. Diente sie doch, entgegen aller Propaganda, hauptsächlich als Bollwerk nach innen, das die eigene Bevölkerung einsperrte, um den Ader-lass der DDR durch Massenflucht zu stoppen. Das Trauma dieses Abgeschottetseins spiegelte sich auch in den beklemmend engen Schachtelräumen wider, in die Künstler aus Kuhrts Umkreis wie Wolfgang Peuker, Volker Stelzmann oder Karl-Georg Hirsch vielfach ihre Bildfiguren bannten. Auch Kuhrts Vision vereckt die Wände wie zu einer Gefängniszelle. Seine zeichnerische Replik von 1982 verrät, was sich hinter den Mauern verbirgt: ein gigantisches Labyrinth verwinkelter Irrgänge und Sackgassen ohne jeden Ausweg.

Doch die Sehnsucht nach Recht und Freiheit ließ sich nie ersticken. Bis zu ihrem Fall im November 1989 gab es Hunderte oft mit dem Tod bezahlte Versuche, dieser Mauer zu entkommen. Auch Kuhrts Laokoon tritt (im wahrsten Sinn des Wortes) den Beweis an, dass scheinbar unüberwindliche Betonwände brüchig werden können.

Sein Protest hat nichts an Gültigkeit verloren. Noch immer werden Völker durch unmenschliche Grenzanlagen schroff gespalten. Ganz zu schweigen von den Mauern in den Köpfen, wie sie die Rockband Pink Floyd in ihrem mit Kuhrts Holzschnitt zeitgleichen Konzeptalbum »The Wall« aufwühlend versinnbildlichte.Im Nachhinein setzt es in Erstaunen, dass diesessubversive Blatt zahlreiche Ausstellungen durchlief, darunter die IX. Kunstausstellung der DDR. Das war wohl auch dem Bildtitel geschuldet, der das Ereignis in mythische Ferne zu entrücken schien. Neutral war diese Namenswahl jedoch keineswegs. Mit Laokoon verband sich der Warnruf vor heraufziehender Katastrophe ebenso wie das existenzielle Risiko der schlimmen Nachricht für den Überbringer. In diesem Sinne hatte Karl Hofer um 1940 einen Laokoon im Todeskampf als Menetekel für den Untergang des Dritten Reiches gemalt. Damit war der Mythos angesichts der Unmöglichkeit, die Dinge unverhüllt beim Namen zu nennen, zur Tarnkappe geworden. Eine Situation, in der sich Jahrzehnte später auch Rolf Kuhrt befand. Hofer vermied, wie El Grecos Gemälde im Metropolitan Museum of Art, den direkten Bezug auf die hellenistische Marmorgruppe, die das Ende Laokoons und seiner Söhne im Würgegriff der Schlangen schildert. Doch in der Regel animierte diese Skulptur seit ihrem Fund im frühen 16. Jahrhundert zu einer überaus facettenreichen Rezeption. Künstler ganz unterschiedlicher Couleur haben dem berühmten Meisterwerk gehuldigt - von William Blake bis zu Roy Lichtenstein. Ihm fiel in der Ästhetik seit Gotthold Ephraim Lessing bis hin zu Peter Weiss eine Schlüsselrolle zu. Seit Tizians »Affenlaokoon« löste es auch eine Flut von Karikaturen aus. Für den Freimut des Dialogs mit dem antiken Vorbild stehen Werke wie der »Woman Laocoon« der Malerin Maria Lassnig oder der »Anti-Laokoon« des Wiener Phantasten Ernst Fuchs. Rudolf Hausner schickte ihn als »Flugkapitän Laokoon« in den Orbit und empfahl uns allen »mehr laokoonisches Bewußtsein«. Noch assoziativer sind die Anklänge in Ossip Zadkines Mahnmal »Die zerstörte Stadt«, das an das Leid von Rotterdam im Zweiten Weltkrieg erinnert. Wie dieser Plastiker verzichtete auch Kuhrt auf Schlangen und Begleiter: Statt im Kampf mit den Pythons windet sich sein Laokoon durch das aufgerissene Mauerwerk. Allen diesen Werken gemeinsam aber ist der emporgereckte Arm, bei Kuhrt verbunden mit der geballten Faust, dem Kampfsymbol des Proletariats. Auch Wolfgang Mattheuer spielte darauf vielfach an, sogar in der »Eingeschneiten Aktion« eines in Drahtschlingen und Frost erstarrten Laokoon - der Antipode zu dem unbeugsamen Aufbegehrer von Rolf Kuhrt.Es gehört zur Ironie der Kunstgeschichte, dass dieser als Topos des Sichaufbäumens so gern von der Laokoongruppe entlehnte Arm keineswegs authentisch ist, sondern freie Ergänzung durch einen Schüler Michelangelos. Erst das im 20. Jahrhundert entdeckte Originalfragment nötigte zu der Erkenntnis, dass die antiken Bildhauer Laokoons linken Arm über der Schulter angewinkelt hatten.

Übrigens malte die Berlinerin Birgit Kinder 1990 einen ähnlichen Durchbruch an die
Berliner Mauer, eines der populärsten Motive der »East Side Gallery«. Doch durchstößt kein Mensch die Betonwand, sondern ein »Trabi«, der Volkswagen des Ostens. Und der Düsseldorfer Maler Jörg Immendorf streckte 1978 im Auftaktbild seines Gemäldezyklus »Cafe Deutschland« dem Betrachter demonstrativ durch ein Mauerstück seine Hand entgegen. »Die Mauer wird museumsreif«, verhieß der ostdeutsche Dichter Volker Braun schon ein Dutzend Jahre früher kühn in seinem ersten Lyrikband. Zu dessen bibliophiler Neuausgabe schnitt Kuhrt vierzig Jahre später kraftvolle Vignetten in Holz, neben den Holzschnitten zu Voltaires Candide ein Höhepunkt seines vielseitigen Buchkunstschaffens.

Aber die Ruferin steht immer wieder auf

In einer Zeichenstudie hatte sich Kuhrt bereits vergegenwärtigt, wie der durch Laokoons Prognosen aufgebrachte Mob über ihn höhnisch und lynchbereit herfällt. Aber dieser Bildansatz wurde alsbald überlagert von einer anderen Gestalt: Kassandra. Durch Heimat, Priesteramt und tragisches Geschick Laokoon verwandt, erschien sie Kuhrt dennoch als an Charakter und Zeitbezügen ungleich reichere Persönlichkeit, die ihn über Jahre hinweg zu einer Fülle von Versionen inspirierte. Zeitweilig schien sich sein Schaffen geradezu zu kassandrieren.

Ausgelöst hatte diesen Dammbruch der harsche Satz »Wir brauchen keine Kassandrarufe« aus dem Munde eines machtverwöhnten Malerstars der DDR, der damit eine hitzige Debatte über die gegen Ende der Siebzigerjahre weltweit eskalierenden Spannungen abzuwürgen suchte. Tief erschrocken begann Kuhrt, die Redensart zu hinterfragen und geriet so in den Bann der Unheilkünderin, die ihm näher ging und mehr zu sagen hatte als jede andere Gestalt aus dem Pantheon der Mythen.

Schon in der »Orestie« des Aischylos eifert der Chor der Greise: »Schweig still! / Wir wissen, dass du deine Seherkunst verstehst. / Aber wir brauchen keine Prophetie: Hier nicht!« Dieses verblendete Vonsichweisen von Betroffensein und Schuld hat Kuhrt jahrelang thematisiert - das überhebliche »Wir nicht!«, das sich kein eigenes Fehlverhalten eingesteht. Es ist jene stupide Abwehr ernsthafter Kritik, die in allen Diktaturen das öffentliche Leben prägt.

Kassandra, die schöne Tochter des Königs Priamos und Schwester Hektors sowie vieler weiterer Geschwister, erweckte die Begierde des Apollon, der seiner Priesterin die Sehergabe verlieh, daran aber, weil sie sich ihm verweigerte, den Fluch knüpfte, dass niemand ihren Worten Glauben schenken sollte. Ihre Botschaft von der Niederlage Trojas stieß daher auf dieselbe, von Hass und Rufmord aufgeheizte Verstocktheit wie die Warnungen Laokoons. Nach dem Eintreffen ihrer Vorhersagen im Tempel geschändet, dann zur Sklavin des Agamemnon erniedrigt, fiel sie schließlich in Mykene dem Mordbefehl der Klytämnestra zum Opfer. Auch diese Bluttat hatte sie vorausgesehen.

Ihr Dilemma, drohendes Desaster klar vor Augen zu haben bei gleichzeitiger Ohnmacht, dieser Erkenntnis Gehör zu verschaffen, musste einen geistig wachen Künstler in der DDR tief berühren. Wusste er sich doch in ähnlicher Zwangslage. Nur zu gut war ihm bekannt, wie autoritäre Machthaber in ihrem Unfehlbarkeitswahn mit denen umspringen, die ungeschminkt die Wahrheit sagen. In Christa Wolfs Erzählung »Kassandra« klagt die Titelgestalt: »Das alte Lied: Nicht die Untat, ihre Ankündigung macht die Menschen blass, auch wütend, ich kenn es von mir selbst. Und dass wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht.«Sich tief in Kassandra einfühlend hat diese große Schriftstellerin in der mythischen Seherin die eigenen Bedrängnisse leidenschaftlich zur Sprache gebracht, einer unerhört dichten, dichterischen Sprache. Fest von ihrer Heldin überzeugt: »Die Gesichte, von denen sie überwältigt wird, haben nichts mehr mit den rituellen Orakelsprüchen zu tun: Sie >sieht< die Zukunft, weil sie den Mut hat, die wirklichen Verhältnisse zu sehen.« Nichts anderes bekunden die Bilder des Rolf Kuhrt. Erste Kassandra-Studien setzten schon 1978 ein, fünf Jahre bevor Christa Wolfs Erzählung erschienen ist, um sofort zum Welterfolg zu avancieren. Die damalige Zeit war regelrecht kassandraschwanger. Selbst eine feministische Zeitschrift nannte sich nach der mythischen Prinzessin. Kuhrt konfrontierte sie sogar mit dem tragischen Schicksal iranischer Frauen nach dem Machtgewinn des Ajatollah Chomeni in der islamischen Revolution. Noch als Elfriede Jelinek 2004 den Nobelpreis erhielt, wurde sie von dem Regisseur Claus Peymann als »Kassandra der zeitgenössischen Literatur« gefeiert. Freilich geisterte die Trojanerin schon lange vorher durch die Künste. Hauptwerke von Max Klinger, Karl Hofer oder Gerhard Marcks tragen ihren Namen. In der Literatur spannt sich der Bogen, um lyrische Beispiele hervorzuheben, von der einfühlsamen Ballade Friedrich Schillers bis zum schmerzlichen Gedicht des Amerikaners Robinson Jeffers. Bei beiden ist Kassandra ausgestoßen, weil sie die bittere Wahrheit kennt und ausspricht, die niemand wahrhaben will. »Truly men hate the truth, they'd liefer / Meet a tiger on the road« - »Wahrlich, die Menschen hassen die Wahrheit, sie würden lieber / einen Tiger auf der Straße antreffen«, heißt es bei Jeffers, der sich als ihr Schicksalsbruder erfährt: »No: you'll still mumble in a corner a crust of truth, to men /And gods disgustmg - you and I, Cassandra.« - »Nein: du wirst weiterhin in einer Ecke ein Körnchen Wahrheit kauen, den Menschen / Und Göttern ein Greuel -Du und ich, Kassandra.«  Schiller lässt die in und an der »Stadt der ewig Blinden« Verzweifelnde von Äpollon ihre Blindheit zurückfordern. Denn gilt schon, nach dem Bibelwort, der Prophet nichts im eigenen Lande, dann noch weniger eine Prophetin. Außer ihrer Sehergabe wird Kassandra zum Verhängnis, dass sie als Frau in einer Männergesellschaft ihre Stimme erhebt, trotz aller Anfechtungen unbestechlich. All das formt sie, so der Spezialist Matthias Falke, »zu einer Dolorosa-Figur, in der die conditio humana kristallisiert: als selbstbewusstes Wesen in eine Existenz des Leidens geworfen zu sein und wissend dem Tod entgegenzugehen.«

Diese Sicht teilt auch Rolf Kuhrt, der 1983 bekannte: »Kassandra bedeutet das Menschsein schlechthin. Der Kassandra-Stoff ist für mich eine der Elementartypen menschlichen Verhaltens. In meinen Blättern zeige ich Figuren, die Kassandra abweisen,     und Kassandra-Gestalten, die sich abwenden vom Geschehen, schreiend Aufmerksamkeit zu erregen versuchen, weil ruhig Gesagtes kein Gehör mehr findet. Sie pressen die Hände auf den Mund, um nichts sagen zu müssen, schlagen verzweifelt gegen die Wände, die nicht nachgeben und kein Echo hervorbringen, suchen in tosenden Schluchten der Großstadt sich vernehmbar zu machen, decken eine Binde über ihre Augen, um nichts mehr sehen zu müssen und werden doch von ihren Ahnungen verfolgt, die keine abwehrende Handbewegung zu verscheuchen vermag ... Nichts kann ihnen helfen: Sie werden verfolgt, gefesselt, gesteinigt, vor Richter gezerrt, abgeurteilt, brutal mißhandelt - die Zunge wird ihnen herausgerissen, um sie endlich zum Schweigen zu bringen - und erschlagen. Aber die Ruferin steht immer wieder auf ...«

Wie Laokoon geht Kassandra in einem expressiven Holzschnitt durch die Wand. Aus fensterartiger Öffnung springt sie hervor, mit gellendem Schrei, die Rechte beschwörend ins Nachtdunkel gestreckt, das finster über kalten Mauern lastet. Wie im Gefängnishof ist ein Menschenknäuel darin eingeschlossen. Der Außen- wird zum Binnenraum, aus dem es scheinbar kein Entweichen gibt. Beklemmend der Gedanke, auch Laokoon könnte beim Gelingen seines Ausbruchs nur in einem solchen abgeriegelten Geviert gelandet sein, ähnlich dem Leidensgefährten des Grafen von Monte Christo, der sich von einer Zelle in die nächste durchgegraben hatte!

»Kassandra und wir« lautet der Titel des großen Breitformates aus dem Jahre 1982. Im zuckenden Kontrast von Schwarz und Weiß, von Licht und Schatten ist vereint, was der Seherin in vielen Werken des Künstlers widerfährt: Sie wird mundtot gemacht und grausam geschunden bis ein Erschrockener, nein: Unerschrockener sie unter seinen Schutz nimmt. Wie in einem Filmstreifen ist sie mehrfach im Bild, voll und ganz im Bilde darüber, was einer Frau geschehen kann und immer wieder auch geschieht, die mit dem Mut der Verzweiflung vor nahendem Unglück zu warnen wagt. Das Gesicht der Gefolterten erinnert nicht von ungefähr an Wiedergaben weinender Frauen, die Picasso im Umfeld seines Guernica-Mementos schuf.

Immer neuer Qual und Hetze ausgeliefert, versinkt Kassandra dennoch nie passiv in Selbstaufgabe. Noch in den schrecklichsten Torturen glimmt ein Funken Hoffnung auf die Uberlebenskraft des Ethos der Vernunft und der Emanzipation, das sie verkörpert. Verkörpert im besten Sinn des Wortes. Denn in der Regel tritt sie unbekleidet auf. Diese elementare, von antiker Idealität weit entfernte Nacktheit befriedigt kaum die Augenlust des Eros. Dagegen betont sie das schutzlose Ausgeliefertsein, besonders deutlich in Kuhrts Schreckensbildern aus den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau.

Auch Kassandras Peiniger agieren nackt, gleichsam bloßgestellt. Es geht um die nackte Wahrheit, die nuda veritas, von der schon in einer Ode des Horaz die Rede ist. Zugleich dient dieser programmatische Verzicht auf Kostüm und Attribute des Prestiges dem Streben nach allgemeiner, zeitübergreifender Gültigkeit. Nicht zuletzt offenbart sich darin der in zahllosen Aktstudien geschulte Sinn des Künstlers für die Ausdruckskraft des Körpers. Was ihn denn auch, von Haus aus Grafiker und Maler, mit innerer Folgerichtigkeit zur Plastik führte.